IN DEN ALLER-BESTEN JAHREN
Das einzige im Tal der Esel lebende Maultier heisst Maria. Mit stolzen 30 Jahren hat sie die besten Jahre zwar hinter, die allerbesten aber noch vor sich. Entgegen der veralteten Anstandsregel darf bei diesem jugendlichen Äusseren das Alter der gestandenen Dame sicher verraten werden.
Da dies nun kein Geheimnis mehr ist, würde es ihr bestimmt nichts ausmachen, wenn wir auch ihr Gewicht offenlegen: Rund 300 kg bringt Maria auf die Waage. Seit 3 Jahren lebt sie in unserer Auffangstation - zurzeit ist offenbar die Drei ihre Begleiterin. Bei der nachfolgenden Episode aus ihrem langen Leben spielt diese indes keine Rolle.
Jahrelang trägt die geduldige Maria mal schwere, mal etwas leichtere Lasten den Berg hinauf und hinunter. Doch eines Tages sind ihre Kräfte erschöpft, zumal sie offensichtlich Schmerzen hat. Ihre Besitzer kontaktieren uns, da sie sich um Marias Zukunft sorgen und nicht mehr für sie aufkommen können. Das Eselprojekt der Tierärzte im Einsatz war zwar ursprünglich nur für diese Spezies geplant, aber wie könnten wir Maria nach ihrem harten Arbeitsleben abweisen. Also beschliessen wir, auch ihr ein neues Zuhause zu geben.
Marias Problem ist sofort klar; eine Verletzung am Vorderbein verunmöglicht weiteres strenges Arbeiten.
Wir tun unser Bestes, um die Verletzung zu beheben. Im Laufe der Zeit entwickelt Maria aber ein pathologisches Verhalten, indem sie sich immer wieder an der gleichen Stelle verletzt. Ohne streitsüchtig zu sein, ist sie doch ein temperamentvolles Maultier, was unschöne Folgen haben kann.
Ihre jüngste Verletzung ist schwerwiegender als die vorhergehenden, sodass wir sie in der «Krankenstation» unterbringen. Das sind die Ställe, in denen die ältesten Esel leben und ständig überwacht werden können.
Eines Morgens finden wir Maria am Boden liegend vor; sie kann nicht mehr aufstehen.
Zu viert schaffen wir es, Maria mit einem Tragetuch aufzurichten. Wegen eventueller Verletzungen und um ihre Lage nicht noch zu verschlimmern, müssen wir sehr behutsam vorgehen.
Wir geben ihr ausreichend Zeit, sich zu beruhigen und untersuchen vorsichtig das linke Vorderbein.
In der Schlinge können wir sie nicht lassen - verliert sie das Gleichgewicht, werden ihre gesamten 300 kg auf das Material verlagert. Dieses ist jedoch nicht dafür ausgelegt und könnte Maria nicht ohne Unterstützung tragen. Wir nehmen uns also Zeit bis sie stabil steht und sich bewegt. Während wir sie auf den drei gesunden Beinen zu den Ställen führen, gleichen wir das Problembein nach und nach aus. Den Fuss kann sie benutzen; wir müssen eine erneute Untersuchung vornehmen und über die passende Behandlung nachdenken.
Bevor wir die endgültige Diagnose stellen können, erhält Maria eine Infusion mit schmerzstillenden und entzündungshemmenden Medikamenten. Und natürlich ein weiteres wichtiges Heilmittel jeder Tiertherapie: viele Streicheleinheiten!
Unsere definitive Diagnose lautet schlussendlich: Riss in der Gelenkkapsel des Knies, der eine Blutung in der Gelenkhöhle verursacht – in der Fachsprache auch Hämarthrose genannt. Unsere Tierärzte leiten die angesammelte Flüssigkeit ab, um die Spannung im Gelenk zu lösen. Ausserdem verabreichen sie Maria örtlich wirkende Medikamente, tragen eine entzündungshemmende Creme auf und legen einen festen Verband an.
Bis eine deutliche Besserung eintritt, bekommt Maria weiterhin täglich Schmerzmittel und Präparate gegen die Entzündung.
Ein paar Tage später ist es soweit: Maria nimmt ihren ersten Spaziergang in Angriff. Sie wirkt mit ihren noch etwas zögerlichen Schritten zur nahegelegenen Wiese geradezu anmutig, scheint sich aber auf das köstliche Gras zu freuen.
Nach einigen weiteren Tagen beginnt Maria, ihren Fuss zu benutzen. Sobald sie sich nicht bewegt, ist sie noch immer besonders vorsichtig. Die Genesung verläuft planmässig - bald kann sie in ihre Hauptgruppe zurückkehren. Wir hoffen sehr, dass dies ihre letzte Verletzung war und werden ihr bei der vollständigen Heilung bestmöglich zur Seite stehen.